Holacracy®

Ein Bericht vom Treffen der Agile Saxony Community am 21.06.2016.

Trotz Fußballabend trafen sich am Dienstag, den 21.06.2016, um 19 Uhr etwa 25 Mitglieder der Agile Saxony bei Susan Kindler in der Königstraße 2, um über holokratische Unternehmensformen zu diskutieren. Der Erfahrungsbericht von Sven Schubert und die Verdeutlichung der Eigenverantwortung in selbstorganisierten Strukturen von Juliane Kluge verbreiteten eine inspirierende Atmosphäre, sodass sich am Ende kaum jemand für das Fußballergebnis interessierte.

Erfahrungsbericht von Sven Schubert

Sven Schubert schilderte eindrucksvoll seine Motive für einen Wechsel aus seiner jahrelangen Führungsrolle in einem Konzern zu dem holokratisch aufgestellten IT-Dienstleister netcentric. Gleichzeitig unterschlug er nicht seine Bedenken und verglich den Wechsel mit der Wahl, die rote oder die blaue Pille schlucken zu müssen. Den erarbeiteten Status, die Position und die Kollegen aufzugeben, seien ihm keineswegs leichtgefallen. Gleichzeitig spürte er aber eine Unzufriedenheit, eine Leere, die sich aus den engen Schranken und der Arbeit als reiner Verwalter ergaben. Nach acht Monaten würde er sagen, dass man Holacracy® nur schwer erklären kann und man es selbst erleben müsse.

Sven betonte aber auch, dass ein holokratisch geführtes Unternehmen auch seine „Ecken und Kanten“ hat. Gerade das Einarbeiten neuer Mitarbeiter sei eine große Herausforderung. Auch habe netcentric professionelle Berater benötigt, um Holacracy® zu etablieren. Im weiteren Verlauf zeigte uns Sven die wichtigsten Eigenschaften bestehend aus Kreisen (Circles), Rollen, Regeln und Werkzeugen. Jeder Kreis sei eingebettet in einen anderen und bestünde nur so lang, wie er benötigt würde. Ständig würden sich neue Kreise bilden, während andere verschwinden. Die Kommunikation zwischen den Kreisen erfolge durch Vertreter des oberen und darunterliegenden Kreises (Rep-Link und Lead-Link). Um trotz der Dynamik die nötige Transparenz zu wahren, nutzt netcentric Glassfrog. Das Ziel sei, jede Art der „Schattenorganisation“ zu vermeiden – nur, was in Glassfrog dokumentiert sei, dürfe auch existieren. Dies sei aber nur begrenzt möglich, da Menschen sich untereinander automatisch vernetzen.

Jeder Circle kann einen Bedarf über eine Tension (Spannung) anmelden. Dann gibt es keine Diskussion; sie wird aufgenommen und später bearbeitet. Es bedarf keiner Begründung, es gibt kein Misstrauen, denn es wird unterstellt, dass eine Tension nicht ohne Grund exiistiert. Es gibt kein Reporting, kein Controlling und kein Budget für Circles. Herausfordernd sei es, wenn mehrere Rollen durch eine Person repräsentiert würden. Es gäbe viele Grautöne zwischen klassischer (sbzw. tarrer) Organisation und holokratischer. Dennoch denkt Sven, dass es unumgänglich sein wird, die Partizipation der Mitarbeiter, in welcher Form auch immer, zu ermöglichen. Der Markt ändere sich schnell und man müsse Schritt halten, um die Lage intern zu adaptieren.

Agile Saxony – Holacracy / Foto: Vincent Tietz

Radikale Selbstverantwortung von Juliane Kluge

Juliane Kluge schilderte uns, wie sie vom Theater extreme Formen der Selbstorganisation kennenlernte und dies der Ausgangspunkt für ihre Tätigkeit als Trainer und Coach war. Auch unter den besten Rahmenbedingungen würde das Mindset in der Gruppe allein nicht reichen, wenn nicht jeder für sich selbst sorgen und für sein Handeln die notwendige Verantwortung übernehmen könne.

Einerseits gäbe es die Angst, dass Führungskräfte in selbstorganisierten Teams überflüssig werden würden, andererseits sollten sich Manager sich für eine kontinuierliche Prozessdisziplin einsetzen, ihr Charisma nutzen, um Menschen für Veränderungsprozesse und Selbstoptimierung zu begeistern. Bisherige Erfolgsfaktoren durch Strukturierung, Ordnung, Durchsetzen, Vorausdenken und Akzeptanz der Autoritäten würden durch Hinterfragen, Mut, Chaos, Selbstorganisation, Orientierung am Mehrwert und kollektives Wissen abgelöst. Heutige Führungskräfte müssten erkennen, dass Vertrauen sie wesentlich erfolgreicher machen würde als Kontrolle: Fördern sei besser als Fordern, Begleiten besser als Disziplinieren. Widerstände können als wichtige Information wahrgenommen und genutzt werden.

Holocracy / Foto: Susan Kindler

Holacracy am Beispiel / Foto: Kindler

Radikale Selbstverantwortung / Foto: Susan Kindler

Radikale Selbstverantwortung  / Foto: Kindler

Juliane nannte sechs Kernkompetenzen der radikalen Selbstverantwortung, welche aus ihrer Sicht eine entscheidende Rolle spielen, damit Selbstorganisation funktioniert. Diese würden sowohl für Führungskräfte als auch Mitglieder selbstorganisierender Teams gelten:

  • Ich weiß, wie ich Entscheidungen treffe und gehe notwendigen Konflikten nicht aus dem Weg.
  • Ich bin in der Lage, meine Grenzen zu kennen, zu achten und zu verteidigen.
  • Ich bin freiwillig hier und leiste meinen Beitrag.
  • Ich weiß, was ich kann und was ich noch lernen muss.
  • Ich kenne meine Ziele und Bedürfnisse und sorge dafür.
  • Ich weiß, was ich von anderen brauche und was andere von mir erwarten können.

Wenn wir diese Punkte über uns selbst kennen, würde es uns leichter fallen, uns in einem selbstorganisierten Team einzubringen. Juliane meint auch, dass die radikale Selbstverantwortung einen direkten Einfluss auf die Meetingqualität habe. Nur wenn wir in Selbstführung und Achtsamkeit seien, dann würden wir merken, wenn unsere Verhaltensautomatismen anspringen würden. Dazu gehören feindliche Muster, welche die Zusammenarbeit störten, z. B. sich nach vorn zu drängeln, Lösungen vorgeben, sich rauszuhalten, sich anzufeinden, sich zu verteidigen, den Status zu betonen, sich abzuwerten und sich infrage stellen.

Die Automatismen könne man durch ein mentales Check-In verhindern, indem man sich selbst die Situation wirklich bewusst macht und sich anschließend aktiv reguliert. So könne man z. B. verhindern, eigenen Druck auf die andere zu übertragen. Juliane leitete eine kleine Achtsamkeitsübung an, um zu demonstrieren, wie wir mit uns selbst in Kontakt treten können. In einem Moment der Stille sollten wir unsere Gedanken und Handlungsimpulse für uns selbst feststellen, ohne sie zu bewerten. Wir stellten fest, dass wir nicht nur einen Gedanken haben, sondern sie stets variieren und uns unterschiedliche Impulse geben. In der Hektik des Alltags nehmen wir diese aber kaum wahr.

Diskussion

Im Anschluss an die beiden Impulsvorträge gab es eine kaum enden wollende Diskussion. Einige Fragen zielten darauf ab zu erfahren, wie eine Organisation zu einer Holokratie kommen kann. Der Wechsel kann nur schwer von „unten“ vollzogen werden, sondern muss von der Führungsebene gewollt sein. Da gebe es auch kaum halbe Sachen und nur damit ein Unternehmen „cool“ sei, sei ein schwaches Motiv. Sven meinte, dass der Erkenntnisprozess nie abgeschlossen wäre und sich Unternehmen schon die Frage stellen müssten, wie sie den Dienst nach Vorschrift vermeiden und gute Mitarbeiter halten könnten. Susan meint, dass bisherige Unternehmen mit ihrer Form der Organisation erfolgreich waren und man deshalb auch der Führung die entsprechende Fairness entgegenbringen sollte. Ein weiterer Vorschlag, alternative Führungsstile zu etablieren, sei die Form eines Piloten oder eines „Think-Tanks“. Man könne etwas ausprobieren und bei Erfolg auf andere Bereiche übertragen. Weiterhin sei es eine Herausforderung, dass heutige Führungskräfte sich in holokratischen Organisationen neue Aufgaben suchen müssen, in denen sie wirksam sein könnten.

Gespräche bei Agile Saxony / Foto: Susan Kindler

Gespräche bei Agile Saxony / Foto: Susan Kindler

Ein weiterer Themenschwerpunkt der Diskussion war das Recruiting. Schüler und Studenten würden schon mit ganz anderen Erwartungen in die Unternehmen kommen und sich gezielt die Organisationsform heraussuchen. Sie würden mehr Mitspracherecht einfordern, weil sie es gewohnt seien. Gleichzeitig könne man nicht immer von den Hochglanzbroschüren auf die wahre Arbeitskultur schließen.

Schließlich ergänzten Julianes Kernkompetenzen den Aspekt der Selbstfürsorge, welcher notwendig sei, um trotz Begeisterung kontinuierliche Leistung zu bringen. Auch Sven bestätigte, dass es manchmal schwierig sei, in holokratischen Organisationen Grenzen zu ziehen und nicht auszubrennen. Kein Vorgesetzter würde rückmelden, dass man zu viel arbeiten würde. Charisma und Autorität könnten weiterhin wirken, auch wenn Hierarchien formal nicht mehr vorhanden sind. Dies müsste erkannt und angesprochen werden.

Fazit

Fußball spielte an dem Abend keine Rolle mehr; die Gespräche hielten noch eine Weile an. Holokratie ist ein spannendes Thema und möglicherweise die nächste große Herausforderung, die sich Unternehmen stellen müssen. Ein herzliches Dankeschön an Susan Kindler für Gastfreundschaft und die Moderation. Das nächste Treffen wird voraussichtlich am 21.9. an dem Thema anschließen und Soziokratie behandeln. Weitere Details werden wieder über Xing und Twitter bekannt gegeben.

Vincent Tietz

Ich bin Agile Coach und Teamleiter bei OSP in der Otto Group in Dresden. Ich bin u. a. für die Agile Organisationsentwicklung verantwortlich, um gemeinsam mit meinen Kolleginnen und Kollegen unternehmensweite Veränderungsprozesse in Gang zu setzen. Darüber hinaus bin ich Scrum Master in einem verteilten Team.

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